Katholisch, aber ohne Amtskirche
Frauenwürde arbeitet in der Schwangerenkonfliktberatung und braucht den Papst nicht
Interview der Zeitschrift „imprimatur“ mit Beraterin Beatrix Liesenfeld
Seit dem Februar 2001 arbeitet in Neuwied eine Beratungsstelle für Schwangerschaftskonflikte mit dem schönen Namen Frauenwürde – hervorgegangen aus der KirchenVolksBewegung „Wir sind Kirche“. Frauenwürde ist in der Trägerschaft katholischer Männer und Frauen. Die Voraussetzung für die Gründung von Frauenwürde Neuwied war das strikte päpstliche Nein gegen die gesetzliche Beratung in Deutschland – bei der die Frauen im Konfliktfall bekanntlich einen Beratungsschein bekommen, der den Schwangerschaftsabbruch straffrei zulässt. In der Frauenwürde Neuwied berät Beatrix Liesenfeld (zusammen mit ihrer Kollegin Martina Ernser-Robiller). Wir fragten Frau Liesenfeld:
imprimatur: Warum haben Sie sich in Neuwied nicht (zum Beispiel) mit Donum Vitae zusammengetan (der Beratungseinrichtung, die aus der Initiative des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken entstanden ist)? Hat Frauenwürde ein anderes Beratungskonzept? Bitte beschreiben Sie uns ihr Beratungskonzept, Ihre „Leitlinien“!
Liesenfeld: Warum sollten wir? Es gab keine konkreten Menschen vor Ort, die für Donum Vitae aktiv waren oder werden wollten. Von der KirchenVolksBewegung gab es jedoch bereits eine seit Jahren aktive Gruppe in Neuwied, die sich auf meine Unterstützungsanfrage hin sofort für die neue Aufgabe aktivierte und seitdem ein wunderbares ehrenamtliches Engagement leistet, genauso wie die Vorstände des Landes- und Bundesvereins. Ein partnerschaftlicher Kooperationsversuch mit Donum Vitae war bereits auf Bundes- und Landesebene Rheinland-Pfalz gescheitert und schien uns auch in Neuwied ein eher schwieriges Vorhaben zu sein.
Hinzu kam, dass in der Präambel des Beratungskonzeptes von Donum Vitae stand, dass „keine aktive Hilfe im Verfahren des Schwangerschaftsabbruchs geleistet werden darf“. Es war zu befürchten, dass diese Formulierung eine Anlehnung an die „vorläufigen bischöflichen Richtlinien“ sein würde. Diese „vorläufigen bischöflichen Richtlinien“ schränkten die unterstützende Arbeit mit Frauen (1) und Behörden insofern ein, dass keinerlei Hilfen in Bezug auf einen Schwangerschaftsabbruch geleistet werden durfte, z. B. keine Adressennennung von Ärzten oder Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, und keine Vermittlung von Familienpflegerinnen für den Fall, dass eine Schwangere nur stationär den Abbruch machen kann und minderjährige Kinder unversorgt zu Hause waren.
Auch wenn diese direkte Hilfe im Zusammenhang mit einem Schwangerschaftsabbruch nur selten in Anspruch genommen wird, ist ihre grundsätzliche Verweigerung meiner Ansicht nach unnötig rigide und nicht vertretbar. In unserem Beratungskonzept gibt es einen offenen, positiven Blick auf Frauen und ihre unterschiedlichen Lebenssituationen, auch Krisen. Wenn Frauen bei einer ungewollten Schwangerschaft zur Konfliktberatung kommen, gehen wir von ihrer Eigenverantwortung aus und dass das Kind nur mit ihr als Mutter geschützt werden kann. Wir nehmen uns viel Zeit für das Beratungsgespräch und bieten einen geschützten, angenehmen Rahmen dafür. Die individuelle Situation der Frau steht im Mittelpunkt, ihr Potential und ihre Bereitschaft sich auf neues Leben und neue Verantwortung einzulassen oder auch ihre Ablehnung und fehlenden Möglichkeiten. Dabei kommt sowohl das eigene Lebensrecht des Ungeborenen unabhängig von der Mutter zur Sprache, als auch die Entscheidungsfreiheit der Frau über ihre persönlich zumutbare Opfergrenze.
In der Beratung geht es um Fragen nach Lebenszielen, Werteverständnis, persönlichen Kompetenzen und Ressourcen, (Un)rechtsbewusstsein und anderes. Wenn möglich werden auch Trauer und Abschied vom Kind in geeigneter Form thematisiert. Fast immer wird über Verhütungsfragen und die Möglichkeit der Adoption gesprochen. Wichtig ist uns, dass die Frau zu einer tragfähigen Lösung kommt und sie durch die Beratung Ermutigung und Vertrauen in die eigenen Kräfte (Gottvertrauen?) erfährt.
Wie ist ihr Verhältnis zu Donum Vitae, zu Pro Familia, zum Sozialdienst Katholischer Frauen, inhaltlich? Organisatorisch?
Insgesamt freundlich und kooperativ. Wir treffen uns regelmäßig zweimal im Jahr zu regionalen Arbeitskreisen im Großraum Koblenz, sowohl mit den SchwangerenberaterInnen aus den kirchlichen bzw. kirchennahen Beratungsstellen (2) als auch mit BeraterInnen der anderen Träger. Dabei (und auch bei überregionalen Tagungen oder Fortbildungen, wo Kolleginnen von AWO, Gesundheitsämtern usw. beteiligt sind) ist der unterschiedliche Blickwinkel auf die §§ 218, 219 und die Schwangerschafts-Konfliktberatung mehr oder weniger deutlich spürbar.
Da ich selber 15 Jahre beim Caritas-Verband gearbeitet habe, ist einerseits die Vertrautheit und Verbundenheit mit den Ex-Kolleginnen noch da und auch hilfreich, andererseits sind mir die Schwachstellen natürlich auch bekannt. Einen gewissen Überdruss an kirchlicher Hierarchie, Fremdbestimmung und Doppelmoral kann ich nicht leugnen; speziell mit der Schwangeren-Konfliktberatung fühle ich mich bei Frauenwürde besser aufgehoben. Wann immer es nötig oder auch möglich ist, versuchen wir in diesen Arbeitskreisen unsere Kräfte für die gemeinsame Aufgabe zu bündeln und mit Konkurrenz-Situationen konstruktiv umzugehen.
Sie sagen in Ihren Schriften, dass Sie in Ihrer Beratung das Bewusstsein für den Schutz des ungeborenen Lebens fördern, aber auch die Würde der Frau im Schwangerschaftskonflikt, und dass Sie die Frau mit ihrer „letztendlichen Entscheidung tolerieren“. – Ist das nicht widersprüchlich? Gibt es da keine Präferenz: entweder für das ungeborene Leben, oder für die Entscheidung, wie die Ratsuchende sie treffen wird…?
Leider oder auch Gott sei Dank ist es nicht immer so eindeutig einfach. Unsere Beratungsarbeit steht immer in einem gewissen Spannungsfeld von Recht und Unrecht, Möglichkeiten und Grenzen, Freiheit und Verantwortung usw. Oft entscheiden sich die Frauen für das „kleinere Unglück“. Natürlich ist ein Schwangerschaftsabbruch die „Tötung des eigenen Kindes“ und vom Grundsatz her rechtswidrig, strafbar und unmoralisch. Doch individuelle Lebensumstände haben konkrete Macht und sind nicht beliebig änderbar. Schlechte Erfahrungen und Ängste sind nicht immer mit finanziellen Zuschüssen zu verjagen und Lebensmut und innere Kraftquellen nicht mit Zauberworten zu beantragen. Wenn wir bei Frauenwürde „alles uns Mögliche“ für Mutter und Kind versucht haben und die Frau dann nach ihrem „besten Wissen und Gewissen“ entscheidet, hoffen wir unsere Arbeit gut gemacht zu haben.
Frauenwürde ist katholisch. Wie sind Sie in die Kirche eingebunden? – das sind zwei Fragen: Bekommen Sie Unterstützung aus dem bischöflichen Unterstützungsfonds? Und: weil Sie ja selbstverständlich den ratsuchenden Frauen den Beratungsschein aushändigen – kommen zu Ihnen vorwiegend katholische Frauen, und lässt sich über die konfessionellen und weltanschaulichen Motive der ratsuchenden Frauen überhaupt etwas feststellen?
Unsere Beraterinnen sollten neben der beruflichen Qualifikation schon ein Stück vertraut sein mit der Auseinandersetzung innerhalb der katholischen Kirche und um das Verhältnis von Staat und Kirche, insbesondere bezogen auf Beratung (Schwangerschafts-Konfliktberatung) und soziale Arbeit. Dabei ist ein Engagement für die Ziele der KirchenVolksBewegung (oder zumindest Sympathie dafür) wünschenswert, aber nicht notwendig.
Frauenwürde-VertreterInnen vom Verein und von der Beratungsstelle pflegen regelmäßig Kontakte zu den SeelsorgerInnen und Gemeinden im Einzugsgebiet. Wir informieren über unsere Arbeit und werben in Kirchen und Gremien um Unterstützung. Ich selber bin katholisch sozialisiert und erlebe meinen Glauben als lebendiges Fundament für meinen Lebensweg. Diese primäre „ideologische“ Bindung hindert mich nicht daran für „die Grünen“ kommunalpolitisch aktiv zu sein und mich speziell für frauen- und familienpolitische Themen zu engagieren. Aus dem Bischofsfond in Trier erhalten wir keine Unterstützung, weder für unsere Beratungsarbeit noch direkt für Schwangere in Not. Nur in Kooperation mit dem Caritasverband vor Ort können unsere Klienten nach einem zusätzlichen Beratungsgespräch beim Caritasverband finanzielle Hilfen über den kirchlichen Geldtopf erhalten, ein umständliches und nicht sehr überzeugendes Verfahren.
Die vorläufige Auswertung unserer Statistik von Januar – Juni 02 (in der Statistik 2001 haben wir leider noch nicht die Religionszugehörigkeit erfasst) ergibt, dass 39 % der Frauen (31 Pers.), die zur Konfliktberatung kamen katholisch sind, 20 % (16 Pers.) evangelisch, 15 % (12 Pers.) moslemisch und 5 % (4 Pers.) orthodox. 10 % der Frauen haben keine Religionszugehörigkeit, bei weiteren 10 % gibt es keine Angaben dazu.
Obwohl im Beratungsgespräch fast immer spirituelle, weltanschauliche Aspekte im Hintergrund mitschwingen (Themenbereiche wie Leben und Tod, Verantwortung, Schuld, Grenzen bei den eigenen Fähigkeiten, Mach- und Planbarkeit im Leben, Selbst- und Gottvertrauen haben immer auch diese religiöse Dimension), gibt es sehr selten theologische Gesprächsinhalte. Auch das Angebot der Hinzuziehung einer(s) SeelsorgerIn ist noch nie in Anspruch genommen worden. Unseres Wissens nach wählen betroffene Frauen die Beratungsstelle eher nach den Kriterien zeitnaher Gesprächstermin / räumliche Entfernung / Empfehlung der(s) GynäkologIn als nach Konfession oder Träger der Beratungsstelle aus. Ab und zu wünscht sich eine Frau ausdrücklich Entscheidungshilfe im Rahmen einer christlich orientierten Beratung. Letzte Woche äußerte eine Schwangere: “Ich will auf keinen Fall Mitleid von Ihnen, sondern suche die Konfrontation mit meinen Werten und meinem Kind.“
Sagen Sie uns etwas über die finanzielle Situation: Wer unterstützt Sie? Gibt es staatliche, kommunale Hilfe? Sind Sie auf Spenden angewiesen – und in welcher Höhe? Wenn wir richtig sehen, arbeiten die beiden Beraterinnen jeweils halbtags, hinzu kommt eine Sekretärin, und Sie müssen selbstverständlich die Kosten für Ihre Arbeits- und Beratungsräume aufbringen. Bestimmt haben Sie finanzielle Sorgen. Kommen genügend Spenden zusammen?- Kann man Einzelmitglied werden? Bitte geben Sie Ihre Anschrift bekannt, damit Interessierte sich an Sie wenden können!
Frauenwürde ist ein junger, kleiner Verein ohne große Lobby in der Öffentlichkeit und ohne finanziellen Rückhalt durch Vermögen oder eine Stiftung. Deshalb müssen wir uns auch jedes Jahr aufs Neue um genügend Eigenmittel (Mitgliedsbeiträge: Jahresbeitrag mindestens 20 EURO, für Schüler, Studenten und Erwerbslose 10 EURO; Spenden, Bussgelder usw.) bemühen. Das Land Rheinland-Pfalz und der Kreis Neuwied tragen mit 55 % bzw. 35 % der Beraterinnenkosten einen Großteil der Ausgaben; für die Sekretärin und alle übrigen Sachkosten wie Miete, Telefon, Fahrtkosten, Fortbildung, usw. muss der Verein als Träger der Beratungsstelle jährlich ca. 15.000 – 20.000 Eur aufbringen. Das ist manchmal mühsam und beunruhigend, kann aber insgesamt unsere Motivation nicht schmälern. Die positive Resonanz bei betroffenen Frauen und in der Fachöffentlichkeit und der Rückhalt in der KirchenVolksBewegung geben uns Mut und Vertrauen für die Zukunft.
Wieviel finanzielle, soziale u.a. Hilfe können Sie den Ratsuchenden anbieten – mit guten Worten allein ist es doch bestimmt nicht getan?! Sie müssen doch auch in der Lage sein, aus konkreten Notlagen herauszuhelfen, was Wohnung, Schuldendienst, Arbeitslosigkeit, täglichen Lebensunterhalt betrifft…? Was sind nach Ihrer Einschätzung die wichtigsten Probleme ratsuchender schwangerer Frauen, die über Abtreibung nachdenken?
Wir können der Schwangeren eine umfassende Beratung anbieten bezogen auf staatliche und öffentliche Sozialleistungen, Hilfe bei Behördenkontakten, Durchsetzung von Rechtsansprüchen, Vermittlung zu anderen Beratungsstellen usw. Häufig stellen wir Anträge an die Bundesstiftung „Mutter und Kind“ (oder nach der Geburt des Kindes an die Landesstiftung „Familie in Not“) und vermitteln Gelder z. B. für eine Mutter-Kind-Ausstattung, für Unkosten im Zusammenhang mit einem notwendigen Wohnungswechsel (z.B. Kaution, Maklergebühr, Renovierung), für Babysitterkosten, zur Schuldenregulierung, je nach individueller Notlage. Es kann auch einfach wichtig sein, während der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren des Kindes zuverlässige Ansprechpartnerinnen zu haben, die bereit sind, „in allen Lebenslagen“ freundlich und kompetent zu unterstützen.
Sorge bereitet ungewollt Schwangeren oft die Angst vor sozialem Abstieg, das Aufgeben des eigenen Lebenskonzepts, die psychische und auch physische Überforderung durch Alter, Krankheit, finanzielle oder familiäre Überlastungen, die einseitige Festlegung auf die Hausfrauen- und Mutterrolle, der Verlust der Berufstätigkeit, die Situation als Alleinerziehende usw. Manche Frau würde sich wahrscheinlich für ihr Kind entscheiden, wenn der Kindesvater glaubwürdig und offensiv Mitverantwortung übernehmen würde.
Wir möchten gern wissen, welche Frauen zu Ihnen kommen – zum Beispiel aus welchen Altersgruppen, und wie es mit Jugendlichen ist, etwa mit frühen ungewollten Schwangerschaften, und ob Sie etwas sagen können über die soziale Situation von ratsuchenden Frauen.
Fast übereinstimmend mit den Erfahrungen anderer Beratungsstellen und aus den Vorjahren ist die „Durchschnittsfrau“, die uns im Jahr 2002 zur Konfliktberatung aufsuchte, mittleren Alters und verheiratet, hat bereits 2 Kinder und bisher noch keinen Schwangerschaftsabbruch gemacht. Sie ist deutsche Staatsangehörige, lebt im Kreis Neuwied, kam alleine zur Beratung und gab als Hauptgründe für die Erwägung eines Schwangerschaftsabbruchs psychische Überforderung, wirtschaftliche Gründe, Partnerprobleme und die ungesicherte Versorgung des Kindes an.
36% der Schwangeren waren nicht erwerbstätig, 25% hatten eine Teilzeitbeschäftigung. 40% der Frauen erwarben eigene Einkünfte durch ihre Berufstätigkeit, nur 10% erhielten Sozialhilfe. 38% ungewollt Schwangere befürchteten Wohnungsprobleme, 35% äußerten Angst vor der Verantwortung und 34% hatten Probleme mit dem Partner.
15% der Ratsuchenden war heranwachsend, d.h. bis 21 Jahre, davon 6% 16 Jahre oder jünger. Je nach Reifegrad und familiärem Hintergrund der Jugendlichen kam es sowohl zu Schwangerschaftsabbrüchen mit und ohne Einverständnis der Sorgeberechtigten, als auch zu erfreulichen Entwicklungen für die jungen Schwangeren in Zusammenarbeit mit Elternhaus, Schule, Jugendamt und unserer Beratungsarbeit.
Bestimmt darf man die 16 Monate, die Frauenwürde schon in Neuwied arbeitet, als bedeutenden Erfolg ansehen. Aber um die schwierige Frage nach den Zahlen kommen wir trotzdem nicht herum: Wieviele Frauen haben in ihrer Konfliktsituation bei Ihnen seitdem Rat gesucht? Nimmt ihre Zahl zu? Können Sie ungefähr Ihren „Erfolg“ einschätzen – wieviele (Prozent? Absolute Zahl?) der Beratenen zogen einen Schwangerschaftsabbruch in Erwägung, wieviele wollten den Beratungsschein, wieviele haben tatsächlich abgetrieben, wieviele haben sich für ihr Kind entschieden?
Frauenwürde Neuwied hat am 2. Januar 2001 mit der Beratungsarbeit angefangen und bis heute (Stand 24.7. 2002) 301 Schwangerenberatungen durchgeführt, davon 228 Konfliktberatungen. Im Jahre 2001 waren es 139 Konfliktberatungen und 30 Sozialberatungen; in diesem Jahr sind es bereits 89 Konfliktberatungen und 43 Sozialberatungen, (wobei 13 der Sozialberatungen weitergeführte Betreuungen aus dem Jahr 2001 sind). Die bereits jetzt erkennbare Zunahme der Beratungszahlen zeigt, dass die Schwangeren unser Angebot gut annehmen und unsere Zusammenarbeit mit Gynäkologen, Behörden und anderen Institutionen funktioniert.
Auf Grund von konkreten Rückmeldungen wissen wir, dass mindestens 10 % der Frauen, die zur Konfliktberatung kommen, sich für die Fortsetzung der Schwangerschaft entschließen, manchmal mit Hilfe von weiteren Beratungsangeboten und Vermittlung von finanziellen und anderen Hilfen. Aber nicht jede Frau teilt uns ihre letztendliche Entscheidung mit. Wir bekommen immer wieder Anrufe und Besuche von Betroffenen, die uns nach Monaten davon berichten, dass sie mit ihrem Kind leben und dankbar für das intensive Beratungsgespräch sind.
Konnten Sie abtreibungswillige Frauen gelegentlich dazu bringen, ihr Kind zur Welt zu bringen und es dann zur Adoption freizugeben?
Bisher leider nicht, weder bei Frauenwürde noch beim Caritasverband. Es gab „eine Hand voll“ Frauen, die diese Perspektive ernsthaft in Erwägung gezogen haben und mit denen wir in Kooperation mit den zuständigen Stellen in diese Richtung gearbeitet haben: in einem Fall hat eine Minderjährige das Kind nach der Geburt doch behalten und mit Hilfe der Familie bzw. des Jugendamtes versorgt, ein andermal schreckte die befürchtete Reaktion der Umwelt zunehmend ab und führte zu einem Schwangerschaftsabbruch in der 12. Woche. Fast immer wird die Möglichkeit der Adoption von den schwangeren Frauen als nicht vorstellbar eindeutig abgelehnt.
Ist es eigentlich wahr, dass sich Frauen „leicht“ oder „leichtfertig“ zum Schwangerschaftsabbruch entscheiden? Anders gefragt: was müsste geschehen, damit Frauen schon gar nicht in die Nähe der Abtreibungsgedanken und -absichten geraten…? Was für ein soziales Engagement wünschten Sie sich für die Frauen in unserer Gesellschaft, damit es Frauen und Kindern (Familien!) besser geht… von Abtreibung ganz zu schweigen?
Natürlich entscheiden sich Frauen nicht leichtfertig für einen Schwangerschaftsabbruch, auch nicht seit der neuen gesetzlichen Vorgabe von 1995, nach der die Frau frühestens drei Tage nach der Pflichtberatung selber entscheiden kann, ob sie durch das Austragen des Kindes so schwer und außergewöhnlich belastet wird, dass in dieser Ausnahmesituation der § 218a greift und der Staat von Strafe absieht. Bei jedem Schwangerschaftskonflikt setzt sich die Frau mit wichtigen Lebensthemen auseinander – nicht nur in der Beratung – und zahlt sicher auch „ihren Preis“ für die getroffene Entscheidung. Dass Frauen unterschiedlich bewusst und flexibel mit Lebenskonzepten, Verantwortung usw. umgehen, ist eine Tatsache.
Mir kommt bei den Beratungsgesprächen häufig die Frage nach der väterlichen Verantwortung und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Kinder und Familien in den Sinn und dass es nicht richtig sein kann, die Frau alleine für diesen zwar persönlichen, aber auch gemeinsamen Konflikt haftbar zu machen.
Ich wünsche mir einerseits mehr Frauen in verantwortlichen Positionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die bei großen und kleinen Entscheidungen auch ihre weibliche, mütterliche Seite einbringen und andererseits mehr Männer, die sich verantwortlich in der Familienarbeit engagieren und ihre sozialen, väterlichen Anteile entwickeln und zur Verfügung stellen.
Eine einfache Tatsache ist, dass alles, was wir für schon geborene Kinder tun, auch den Ungeborenen zu Gute kommt. Konkret heißt das, ein Mehr an qualifizierter Ganztagsbetreuung für Kinder (auch in der Ferienzeit), eine faire Bezahlung und Alterssicherung für geleistete Familienarbeit (ohne Sozialamt), mehr an rechtzeitiger und jugendgerechter Aufklärung zu Fragen von Verhütung, Sexualität und Partnerschaft, Vermittlung von sozialer und emotionaler Kompetenz auch in der Schule, verlässliche Integration und Förderung von Behinderten – all das kann helfen Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern.
Überhaupt wünsche ich mir einen Bewusstseinswandel hin zu genereller Achtung des Lebens. Es ist wünschenswert, daß wir uns von der oberflächlichen Hektik lösen und wieder wesentlicher werden. (3)
Frau Liesenfeld, vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Hermann Münzel
Website: www.imprimatur-vatikan.de
Anmerkungen:
1. Bei der Nennung von „Frau, Schwangerer oder Mutter“ ist immer auch der dazugehörige Kindesvater, Partner, Mann mit gemeint, auch wenn er in der Beratung meistens nicht anwesend ist und vom Selbstverständnis her nicht die gleiche Verantwortung spürt.
2. AWO – Arbeiterwohlfahrt, FW – Frauenwürde, CV – Caritas-Verband , profa – Pro Familia, DV – Donum Vitae, SKF – Sozialdienst Katholischer Frauen, DW – Diakonisches Werk
3. nach Ruediger Dahlke, „Lebenskrisen als Entwicklungschancen“